|
1966 - 1967 - 1968
- 1969 - 1970 - 1971
- 1972 - 1976 - 1979
- 1986 - 1989 - 1994 - 2012
- 1996 - 1998 - 1999
- 2000 - 2001 - 2002
- 2003 - 2004 - 2005
- 2006 - 2007 - 2008
- 2009 - 2010 - 2011
-
2013 - 2015 -
2016 - Aktuell
Mother Tongue - Mother Tongue
Mother
Tongue - Mother Tongue (1994, Sony Music)
CD
Wir schreiben das Jahr 1992. Ich bin 8 Jahre alt, Grunge ist DAS Ding
schlechthin. Eine junge Band namens Mother Tongue, ein Jahr zuvor
aus dem Nirgendwo von Texas nach LA gezogen, macht in der neuen Heimat
mit stundenlangen Instrumentalimprovisationen auf sich aufmerksam.
Nach einigen Line-up-Wechseln stellt sich schließlich Bassist
Davo vors Mikro. Es zahlt sich aus: Mother Tongue bekommen einen Majordeal
und nehmen ihr gleichnamiges Debüt auf.
Selten zuvor hat eine Band Depression so intensiv vertont wie sie.
Mother Tongue transportieren dieses Gefühl mit einem prädestinierten
Vehikel: Dem Blues, den sie in ein so nie gehörtes urbanes Gewand
kleiden. Vermischt mit Soul, Funk und Rock präsentieren sie sich
von Anfang an sehr eigenständig. Ihr Spiel beruht auf wahnwitzige
Ausbrüche, ruhige, sehr leise Strophen und immer wieder auf eingestreute
Jams, Solis und Breaks. Allesamt sind sie hervorragende Musiker und
das zeigen sie auch. Davos Lyrics sind tieftraurig, spiegeln seine
innere Zerrissenheit und brodelnden Zorn wieder. Kein Wunder, hat
der Gute doch eine schwere Kindheit zwischen Alkohol und Perspektivlosigkeit
ertragen müssen.
Der erste Song, "Broken", beginnt mit einem ziemlich groovenden
Gitarrenlick. Während er zu Beginn mit beiden Beinen auf der
Erde steht, ist er im Zwischenteil leise, beinahe hypnotisch um dann
wieder, nach einem Bluessolo aufs Neue auszubrechen. Davo brüllt
zum Ende seine ganze Frustration hinaus. "Mad World"
ist ein reichlich schräger Blues, in dem zwei Gitarrenspuren
immer wieder gegenläufig einen ziemlich bedröhnten Sound
erzeugen.
Der dritte Song ist gleichzeitig schon mein persönlicher Höhepunkt
der Platte: "Burn Baby".
Zu Beginn erzählt Davo die Geschichte sehr deltablues-mäßig.
Dann folgt der erste Break, der zum Refrain führt. Nach der zweiten
Strophe wieder ein Break. Und jetzt bricht die Hölle los. Ein
dermaßen präziser Trommelwirbel, knallhart über eine
Minute gehalten, dazu Davos verzweifelt gebrülltes "Burn
motherfucker" schickt einen direkt auf die Matte, so zwingend
und intensiv ist es. "Vesper" ist ein wunderschöner
Song, von Violine und Piano mitgetragen. Und er enthält einen
fast schon parolenhaften Ausspruch: "We are all slaves to the
truth". Das bringt Davos Lyrics allgemein sehr treffend auf den
Punk: Ehrlichkeit und Hingabe! "Sheila's Song" ist ein
groovender Bastard aus Funk und Soul, der wahrscheinlich griffigste
Song auf der Platte. Vielleicht weil er ein wenig an die Chilli Peppers
erinnert. "The Seed", einer der längsten Songs
der Platte, ist wieder ein beinahe reinrassiger Blues. Zu Beginn sehr
ruhig. Aber textlich ein Hammer: "Look at me / stare / come on,
daddy, fuck me / if you dare / can’t you see / I’m crazy
/ yeah sugar daddy / I’m gone". Nach und nach setzen die
zweite Gitarre und das Schlagzeug ein. Und während die Instrumente
weiterhin ruhig bleiben, wird Davo immer lauter. Dann ein Break und
es ist wieder wie zu Beginn. Danach wieder ein Ausbruch, dieses Mal
ein kollektiver. "Damage" ist ein relativ unspektakulärer
Song (von den sehr wütenden Lyrics natürlich abgesehen),
bis in der Hälfte ein scharfer Break kommt, nachdem der Song
plötzlich kurzzeitig von einer wilden Funkgitarre getrieben wird
um dann wieder sehr bluesig (was für ein beschissenes Wort...)
zu werden. „Fear of Night“ ist ein melancholischer
Bluesrocker, „So afraid“, der kürzeste Song, ist
bedrohlich ruhig. Man wartet ständig auf den Ausbruch. Aber der
kommt nicht. „Venus Beach“ hätte auf „By
the Way“ von den Chilli Peppers auch niemand überrascht
(wenn Kiedis wirklich singen könnte). Ein eher konventioneller,
deswegen nicht minder schöner Song. „Enity“ funkt
am Anfang wieder mächtig und ist eher im Stile von „Sheila’s
Song“ gehalten. Verdammt, auch dieser Song hat wieder einen
unwiederstehlichen Groove.
Der Schlusstitel „Using Your Guns“ ist der längste
Song. Davo beginnt wieder mit einem Spoken-Word Erzählstil, während
die Band ihn leise und unaufdringlich begleitet. In der Mitte gibt
es ein kurzes Aufbäumen, nur damit es leiser als zuvor weitergehen
kann. Gegen Ende geht es verträumt und sehr sphärisch weiter.
Bis er ganz, ganz leise aufhört.
Die Platte hat ein bemerkenswertes Artwork. Wie man oben sehen kann,
zeigt das Cover eine weinende Frau. Wenn man es aber ausklappt, entdeckt
man einen Mann, der verdächtig nach einem gewissen Sohn Gottes
aussieht, der auf der Innenseite seiner Unterlippe „Damage“
und auf seinen Fingern „Love“ stehen hat. Bühne frei
für sämtliche Interpretationen.
Mother Tongue gingen nach diesem Album durch die Decke und schnurstracks
auf eine Downward Spiral zu. Nach Erscheinen der Platte folgte eine
Mammuttour in den USA, die Spannungen in der Band wurden immer größer
bis zum Split 1996. In dieser Zeit folgte keine neue Platte. Der zweite
Gitarrist Brian spiele ganz kurz mal bei den Peppers, aber sonst wurde
es ruhig um die Band. Erst 2002 sollte wieder ein (wiederum fantastisches)
Album namens „Streetlight“ erscheinen, auf dem deutschen
Qualitätsindie Nois-o-lution. Mittlerweile hat sich sogar noch
ein drittes dazugesellt und es sieht so aus, als würden sie uns
noch eine Weile erhalten bleiben, denn beide Nachfolgealben sind geprägt
von einem ausgesprochenen Optimismus. Live sind die Herren übrigens
mindestens ein Mal im Leben Pflicht.
Ich habe in dieser Kritik bewusst jedes einzelne Lied besprochen,
denn jeder Song ist ein Teil im Mosaik von Mother Tongue.. (Martin
Weise)
|
|