Plattenkritiken

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 Cindy Lee - Act of Tenderness | Circuit Des Yeux - In Plain Speech | Faust - Something Dirty | Gentle Giant - Octopus |   Temples - Sun Structures

Gentle Giant - Octopus (1.12.1972, Vertigo) - LP
Zeit, eine Lanze für die beste Progressiv-Rock-Band aller Zeiten zu brechen. Anders als ihre schwülstigen Zeitgenossen verloren sich Gentle Giant nämlich nie in schallplattenseitenlangen Arrangements oder ausufernden Solo-Egoismen sondern stellten ihr dennoch ausserordentliches handwerkliches Geschick immer in den Dienst ihrer ausgeklügelten, meist aber eher kurzen und daher auch kurzweiligen Songs.
Ihre Kompositionen sind meisterhaft, nicht nur im Sinne der Komplexität, sondern im Sinne der Nahtlosigkeit. Für mich sind sie die Beatles des Progrocks, denn die Songs hören sich an als wären sie mit Leichtigkeit aus dem Ärmel geschüttelt. Die Noten, die Intonierung, der Einsatz von einem Irrsinn an unterschiedlichen Instrumenten und der zwischen den Akteuren wechselnde aber total wiedererkennbare Gesang wirken unglaublich natürlich. Fast jeder Song lässt einem den Kiefer runterfallen.
Rasant aber doch "richtig" schachteln sich die unterschiedlichen Melodienschichten ineinander, die Taktarten wechseln wie die Bienchen die Blüten und dabei wird eine unschuldige, kindliche Spielfreude zelebriert, die gerade im sonst so ernsthaften Progrock oft fehlt. Ihr Melodienreichtum und Geschmack ist einzigartig. Gentle Giant sind völlig unvergleichbar. Sie wechseln von traumzarter Harmonie zu schroffen polternden Rock-Eskapaden und werfen immer wieder schräge Dissonanzen dazwischen, als würden sie versuchen, ihrer eigenen Ernsthaftigkeit Knüppel zwischen die Füsse zu werfen. Für mich aber noch ein grosser Plusfaktor bei aller stilistischen Vielfalt ist ... der fehlende Jazzfaktor. Ich mag Jazz einfach nicht und Gentle Giant sind der Kammermusik sicher näher. Was ein Glück.
Der Stamm der britischen Band bestand aus den drei Shulman-Brüdern mit schottischen Wurzeln, deren Vater, selbst Musiker, sie früh ermunterte unterschiedlichste Instrumente auszuprobieren, was die Grundlage der unglaublichen Vielseitigkeit der Band war. Auf einer ihrer Platten sind nicht weniger als 64 Instrumente gelistet, die sie natürlich alle selbst spielten.
Die trostlosen kommerziell orientierten Versuche in der Zeit vor Gentle Giant, liess sie bereits früh erkennen, dass es sie nicht erfüllte, sich den Wünschen der Musikindustrie anzupassen. Wir müssen ja an dieser Stelle nicht erörtern, dass kommerzielle Orientierung Kunst tötet und diese Erkenntnis ist die Grundlage, die uns 5 unglaubliche Alben und 3 hervorragende Frühwerke schenkte.
Man rekrutierte nämlich zwei neue Multiinstrumentalisten, die den Anforderungen der Brüder genügten (ein junger Elton John, der sich als Sänger bewarb, fiel selbstredend durch, hahaha) und los gings auf die Reise in das blühende Land der Experimente. Nach drei Alben der Orientierungsphase, die allesamt aber bereits ausgezeichnet sind, erreichten sie mit "Octopus" erstmals den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, der wenigstens bis "Interview" von 1976 anhielt. "The Missing Piece" von 77 markiert einen Wendepunkt, als der Druck der Plattenfirmen wieder grösser wurde und sie tatsächlich doch wieder versuchten, ihre Komplexität zu glätten und "besser" zu klingen (wobei das genauere Ausführen des letzten Halbsatzes und warum "besser" in Anführungszeichen steht, ein Buch füllen könnte, so dass ich da jetzt nicht näher drauf eingehe). Ich habe "The Missing Piece" als Kind aber dennoch ziemlich gemocht und würde das heute noch als Grenzwerk einordnen, dem man durchaus Gehör schenken darf, wenn man alle guten Alben schon kennt und liebt. Danach allerdings ist Sense. Vor "Giant for A Day" und "Civilian" sei gewarnt. Dann war aber nach 10 Jahren auch Schluss. Auch Gentle Giant waren der Punk-Explosion zum Opfer gefallen. Und das ist auch gut so.
(Ralf, 15.10.20)
Circuit Des Yeux - In Plain Speech (Thrill Jockey, 19.05.2015)
Circuit Des Yeux ist der Name unter dem die unheimliche Folksängerin Haley Fohr ihre hauptsächlichen Musiken veröffentlicht. Fohr ist gerade sowas wie 30 Jahre alt, bringt aber schon seit mindestens 12 Jahren Platten heraus. Und nicht nur das: Sie komponiert Soundtracks, ist an unterschiedlichsten Kunstprojekten beteiligt, schreibt, spielt vorallem Gitarre und singt. Und zwar mit tiefer Stimme!! Das klingt erstmal nicht besonders aufregend, aber stellt euch vor, man spricht absichtlich tief, so als wollte man sagen: "Hier spricht Dr. Mabuse!" (in den Vorschriften von Kickin Ass heisst es: "Spare niemals an Insiderjokes!") und dann tut man noch etwas Vibrato und Oper drauf und schon hat man das geradezu furchterregende Gesangsempfinden, mit dem sich ausser Haley Fohr noch kein junges Mädchen an die Öffentlichkeit gewagt hat.
Aber auch ausser der Stimme muss man sich bei Circuit des Yeux (Haley wohnt übrigens in Chicago und spricht den französischen Bandnamen selber ganz amerikanisch aus) erstmal einfinden. Das Klangbild ist variabel, die Songs gehen eigene Wege, es gibt kein verfolgbares Patentrezept. Vielleicht ist es mit experimentellem Indie-Folk am ehesten umschrieben. Akkustikgitarre, Flöten, Geigen aber auch Elektronisches werden zwar sehr homogen und höchst interessant, aber doch in dunklen Klangbildern verwoben, die ein eher unangenehmes Gesamtgefühl hinterlassen. Und darüber tönt diese schauerhafte Stimme. Für Kickin Ass also eine Melange die aufhorchen lässt.
über die Qualität von Fohrs Werk streitet niemand. Die Indieprominenz buhlt um ihre Beiträge. Als Beispiel sei nur Lee Ranaldo genannt, auf dessen jüngstem Album sie auf einem Track mitsingt.
Und sie kann auch live noch was draufsetzen, das beweist, dass mit ihr was nicht in Ordnung ist und sie daher für den Kickin Ass Geneigten noch interessanter macht: Sie versteckt immer ihr Gesicht. Die Haare sind wie ein Vorhang, so dass man quasi nichts von ihr sieht. Manchmal trägt sie auch nen tiefgezogenen Hut oder irgendwelche Stoffarrangements, aber das Gesicht ist immer weg. Ich weiss nicht, warum sie das macht, weil auf Fotos und Interviews hat sie keine Scheu, sich zu zeigen. Ich finde es jedenfalls zumindest merkwürdig.
Haley war übrigens die einzige Musikerin, bei der mir zu Ohren gekommen ist, dass sie während des Corona-Club-Shutdowns sagte, dass Live-Streaming für sie nicht funktioniert. Ich zitiere: "Each time we gathered together and each time I had the ability to sing my songs, I felt my truest self communicating the realest parts of me. And at the end of each event there was always someone there to tell me 'I know.'"
Ich wünsche mir mehr neue Musiker, wie diese Frau.
(Ralf, 13.10.20)
Cindy Lee - Act of Tenderness (Maple Death Records, 2018)
Patrick Flegel's Drag-Cameo ist Musik, wie ich sie in dieser Kombination noch nie gehört habe. Eigentlich ist es Pop-Musik. Aber die Gefälligkeit wird mit dem Gesicht durch einen Stacheldrahtballen gezogen. Cindy Lee ist äusserst schmerzvoll, für die Ohren wie fürs Gemüt.
Der ehemalige Gitarrist und Sänger der kanadischen "Art-Rock"-Band Women (Art-Rock bewusst in Anführungszeichen, um die Verwendung des Etiketts von der Journaille zu kritisieren, weil ich es einfach blamabel finde, wenn man keinen anderen Begriff für Musik findet, die man eigentlich gerne abtun würde, weil sie sperrig ist und weh tut und wo man nicht weiss wohin damit, der man aber die Qualität widerwilligerweise nicht absprechen kann) zerrt uns mit sehr viel bissiger Selbstironie durch seine quälenden Emotionen und tut dies mit bislang nicht gekannter Drastigkeit.
Tatsache ist, dass Cindy Lee ein ausgeprägtes Gefühl für wunderschöne, traurige Pop-Songs hat, die aber mit bitterer Dramatik verzerrt und mit schneidend-klirrender Hoffnungslosigkeit unterlegt sind und daher nie ausrechenbar, gewöhnlich oder eben einfach sind. Das ist definitiv große Kunst - aber eben nicht Art im Sinne des modernen Sprachgebrauchs.
Ich kann mich noch an das Konzert von Peter Brötzmann erinnern, in das mich Magnus einst geschleppt hat. Ich sass da, neben mir lauter angegraute Jazzlieberhaber, zwischen schmuddlig und Anzug .... und fanden das große Kunst, was der alte Sack da abzog. In meinen Augen, als Jazzfremder, war das nichts als grober Unfug und zwar in seiner vollendetsten Form, will heissen, sehr zu meinem Entzücken. Aber es war grober Unfug, der totale Punk und Kunst, nach meiner Auffassung, nur im Sinne der Idee, der Entkopplung vom Einfachen, Geniessbaren. Magnus setzt mir ja heute noch entgegen, dass ich das damals als "geiler Scheiß" bezeichnet hätte und nicht "grober Unfug". Ist ja so quasi dasselbe.
Cindy Lee ist ebenfalls grober Unfug und geiler Scheiß gleichzeitig. Im Gegensatz zu den Jazzern gibt es hier aber viel viel viel Gefühl, es gibt Höhen und Tiefen, mehr Tiefen vielleicht und die von mir viel zitierten Ausbrüche, auch wenn es bei Flegel wohl mehr Einbrüche sind. Wenn du auf einem Plattenspieler schöne aber traurige Popmusik hörst und auf dem zweiten Whitehouse, beides auf derselben Lautstärke. Und wenn du dann mal das eine, mal das andere etwas lauter machst, dann hast du Cindy Lee.
Manchmal liegen die Melodien unter so einer tiefen Schicht von Lärm, dass man sie kaum noch erahnen kann. Manchmal brechen sie hervor wie ein Blümchen durch den dreckigen Beton und dann sieht man sie sofort verzaubert an und ist eingefangen.
Im Prinzip wird man beim Zuhören durch den Fleischwolf gedreht. Das ist mal total kaputt und magenumdrehend, mal herzzereissend, traurig, liebevoll derangiert, dann einfach nur beissend, scheppernd, zerrend, klirrend, krachend, langanhaltende Ohrenschmerzen hervorrufend. Ein Traum. Ich liebe ihn.
Es gibt nur 300 Exemplare der Euro-Pressung von Maple Death. Cindy Lee hat bis heute zwei weitere Alben nachgelegt.
(Ralf, 8.2.20)
Faust - Something Dirty (1.2.2012, Cloud Hill) - LP
Eigentlich schreibe ich das hier nur, um loszuwerden, was mir letztens über das 1997 in der Kölner Kantine stattfindende Konzert von Faust erzählt wurde und das ich so noch nirgends erwähnt gefunden habe.
Zuerst aber etwas zur Zusammensetzung des Albums, das eigentlich kein "richtiges" Faust-Album ist, sondern eine Kollaboration mit dem britischen Indie-Rocker James Johnston (Gallon Drunk) und seiner Frau Geraldine Swayne, ihreszeichens eher Malerin, die aber dennoch schon bei den frühen Gallon Drunk Werken irgendwie immer mit am Ball war, ohne ein Bandmitglied zu sein.
über Faust brauch ich nichts zu erzählen, denke ich mal. Aber auch Johnston schätze ich als eigenständigen Musiker sehr, umso aufdringlicher empfand ich eine zeitlang seine Omnipräsenz. Als ob er mit Gallon Drunk nicht ausgelastet wäre, suchte er immer wieder die Kollaboration. Warum? Auf der Suche nach Lorbeeren oder aus Geschäftstüchtigkeit? Oder wurde er vielleicht sogar gefragt? Zuerst die Bad Seeds, dann Lydia Lunch, dann Faust, alles so schnell aufeinander folgend. Und Faust haben ihn bestimmt nicht gefragt.
Dass er heute auch noch mit PJ Harvey zusammenarbeitet, mag ihn durchaus ehren, hat das schlechteste aller Harvey Alben aber leider nicht bereichern können. ähnlich sehe ich das bei Faust.
Man mag ja nach allen Seiten offen bleiben, aber in meinen Augen ist das eine reine Zweckallianz. Man profitiert voneinander und jeder tut dem anderen eine breitere Fangemeinde auf. Ist verständlich und akzeptiert - künstlerisch aber fahl. Sie ergänzen sich nicht, sondern spielen nebeneinander. Man hört den Unterschied der Songs die aus der Faust-Feder kommen und umgekehrt. Klingt wie ne Split-LP. Dass sie in dieser Besetzung gemeinsam live aufgetreten sind, hätte ich mir dennoch gerne angesehen, um mein Urteil auf breiteren Boden zu stellen.
OK, ich gestehe: Das ist Meckern auf hohem Niveau. Johnston ist ein ausgezeichneter Musiker (als Maler ... weiss nicht so recht) und er hat auch ein Rockstar-Standing. Ich hab ihn sehr oft auf kleinen Bühnen gesehen. In den 90ern ist er bei Gallon Drunk immer quer über alle Monitorboxen von der Bühne gefallen. Oder seht euch mal das Video an, wo man die Tastatur seiner Orgel sieht. Lauter zerdepperte Tasten und voll mit angetrocknetem Blut. Sein Auftritt vor ein paar Jahren im King Georg gehört zu den Top Ten aller Konzerte, die ich in den 2010ern gesehen habe.
Also eigentlich gebührt ihm die allergrösste Ehre und die Latte liegt wirklich an der Oberkante. Aber genau daher erlaube ich mir, Something Dirty zu kritisieren, weil ich verstehe nicht, was er von dem Franzosen will, wenn er sich nicht richtig mit ihm zusammen tut. Ich bleibe dabei, das ist quasi eine Seite Faust/Peron und eine Seite Gallon Drunk/Johnston. Punkt!

Achja, ich schulde euch noch die Geschichte über Faust in der Kölner Kantine, die mir kürzlich vom deren Booker Marcus Neu erzählt wurde. Die Kantine is ja ziemlich gross. Da gehen bestimmt 800 Leute rein. Peron kam morgens schon ganz früh und befestigte schwarze Bindfäden an der kompletten Decke, die soweit runterreichten, dass sie den Leuten ins Gesicht hingen. Beim Konzert zersägten sie dann zuerst ein Gemälde mit einer mikrofonierten Kettensäge, dann stellten sie eine Maschine in den Saal, mit dem die Bauern Spreu vom Weizen trennen und pusteten damit den ganzen Laden voll, sodass der Staub später noch in jeder Ritze in den Regalen hing.
Und am Ende liessen sie eine völlig überdimensionierte Ladung Trockeneis los, die den Saal derart in Schwaden hüllte, dass die Leute Panik bekamen und vor die Tür flüchteten. ALLE, ohne Ausnahme, sogar das Thekenpersonal und zwar ohne Kasse, was verdeutlicht, wie extrem das gewesen sein muss. Die Band merkte das aber gar nicht und spielte ihr Konzert ohne Publikum zu Ende. Wenn das mal keine schöne Geschichte ist.
(Ralf, 13.10.2020)
Temples - Sun Structures (Heavenly, 10.2.2014)
Tote Poprock-Musik mit 60-70s-Möchtegern-Referenzen, die so erbrechenslangweilig ist und ein Gefühl hinterlässt, das etwa so deprimierend ist wie ein schlaffer Händedruck mit einem lahmen Milch-Brötchen. Die Temples sind mir schon 2013 in Köln negativ aufgefallen, als sie mich auf einem Konzert versetzten, das ich nur wegen ihnen besuchte und aufgrund ihrer Absage, drei Bands ertragen musste, die ich am liebsten von oben bis unten vollgekotzt hätte. Das war einer dieser unsäglichen Intro-Abende im Gebäude 9, wo die einem neue Bands vorstellen wollen.
Die Templars sind ein paar britische Modepüppchen, die es vielleicht in die Presse schaffen, weil sie mit irgendwelchen dürren Modelsfreundinnen auf irgendwelchen High-Society-Parties rumhängen und ekelhaften Sekt schlürfen. Ihre Musik klingt aber genauso blutleer wie ihre ätzend-faden Pupsgesichter aussehen. Aber bestimmt bin ich schon wieder Jahre hinterher und sie machen zwischenzeitlich Elektro-Pop-Wave.
(Ralf, 24.2.2020)

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